Elementar für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist die Möglichkeit, arbeiten zu können

Es gilt das gesprochene Wort!

TOP 15+41 – Menschen mit Behinderung eine uneingeschränkte Teilhabe am Arbeitsleben sichern

Dazu sagt die Abgeordnete der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Nelly Waldeck:

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
liebe Kolleg*innen,

“Recht haben heißt nicht unbedingt Recht bekommen.” Mit diesen Worten wird in den Tätigkeitsbericht der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen eingeführt und er beschreibt die Situation der UN-Behindertenrechtskonvention sehr gut. Der Wille ist da, aber die Umsetzung eben noch nicht überall.

Ich nenne mal ein Beispiel: Wenn ich einen Termin bei einer Gynäkologin brauche, mache ich einen Anruf. Ich fahre hin, werde untersucht und gehe wieder. So einfach so gut. Möchte eine behinderte Frau dasselbe tun, zum Beispiel eine Rollstuhlfahrerin oder eine sehbehinderte Frau, ist der Vorgang unvergleichbar schwieriger. Möglicherweise gibt die Website der Praxen Auskunft über die Barrierefreiheit, aber die Website selbst ist nicht unbedingt barrierefrei. Ist dann erstmal die Praxis gefunden und der Eingang barrierefrei, geht es in die Untersuchung. Aber wie viele Praxen in Schleswig-Holstein haben Hebelifte, um zum Beispiel Frauen mit hoher Querschnittslähmung in den Untersuchungsstuhl zu liften? Hinzu kommen fehlende medizinische Kenntnisse zu behinderungsspezifischen Erfordernissen in der Behandlung.

Diese Situation ist nur eine von vielen, die uns deutlich aufzeigen, wie weit wir nach wie vor von einer inklusiven Gesellschaft entfernt sind. Ich möchte an dieser Stelle der Landesbeauftragten, aber auch dem Beirat für Betroffene danken. Der Bericht gibt Eindrücke, die für nicht behinderte Menschen manchmal schwer zu greifen sind und stellt klare Forderungen auf, damit Situationen wie die obige sich endlich verändern. Der Bericht dokumentiert aber keine Untätigkeit, sondern das Begleiten vieler politischer Veränderungen, die im Rahmen der letzten zwei Jahre passiert sind. Eine Veränderung, die für den Bericht und vor Allem für die Arbeit der Landesbeauftragten wie für den Beirat die letzten zwei Jahre bedeutend war, ist die Coronapandemie.

Die besondere Betroffenheit vieler behinderter Menschen durch die Pandemie ebenso wie durch die Schutz-Maßnahmen selbst hat einen unwahrscheinlich schweren Konflikt zwischen Gesundheitsschutz und Selbstbestimmung aufgemacht. Gerade in diesen Situationen wurde klar, wie wichtig feste Partizipationsstrukturen sind, die auch kurzfristig zur Rückkopplung von Entscheidungen zur Verfügung stehen. Der Leitsatz “Nur mit uns über uns” hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht, auch wenn natürlich noch immer Luft nach oben ist. Elementar für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist nach wie vor die Möglichkeit, arbeiten zu können.

Leider scheitert aber die Erwerbstätigkeit von Menschen mit Behinderungen in den allermeisten Fällen nicht am Willen, sondern an Absagen. Man muss sich mal vorstellen, wenn ich “Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen” google, dann ist der erste Google-Eintrag nicht etwa der, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt, sondern einer, der erklärt, wie man behinderten Menschen ohne rechtliche Konsequenzen eine Jobabsage erteilt. Das ist unfassbar!

Das gibt einen guten Vorgeschmack: Fragt man Menschen, wie sie an einen Job gekommen sind, ist die Geschichte allzu häufig dieselbe: Langwierige Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen, immer wieder Absagen zu erhalten und trotzdem weiterzumachen. Das darf nicht die Normalität sein! Gerade vor dem Hintergrund, dass arbeitssuchende Menschen mit Schwerbehinderung durchschnittlich höher qualifiziert sind als nicht schwerbehinderte Arbeitssuchende, ist es bezeichnend, dass sie trotzdem seltener einen Job finden.

Besonders betroffen hiervon sind behinderte Frauen. Sie erleben am häufigsten Diskriminierung im Bewerbungsprozess und – verdienen im Schnitt 667 Euro netto weniger im Monat als Männer im Branchenvergleich. Und natürlich sind für Menschen mit Hörbehinderungen Gebärdensprachdolmetscher*innen eine zentrale Unterstützung, um selbstbestimmt zu arbeiten. Die 75 Euro für eine Stunde dolmetschen inklusive Pause liegen zehn Euro unter dem, was einige andere Bundesländer zahlen. Allerdings zahlt das Land dafür neben der Reisekostenvergütung, die deutlich über der regulären Reisekostenregelung liegt, eine Fahrtzeitpauschale von 75 Euro zusätzlich zu den Reisekosten. Damit wird in Schleswig-Holstein – zwar an anderer Stelle – aber definitiv im vergleichbaren Maß für Gebärdensprachdolmetscher*innen gezahlt.

Und, es kommt der vorherigen Kritik, dass onlinedolmetschen weniger effektiv ist, deutlich entgegen. Mit dieser Struktur wird die Reisezeit ebenso vergütet und nicht nur die Spritkosten übernommen. Insofern hat auch diese Struktur ihren Vorteil. Auch der Vorrang des Online-Dolmetschens wurde von dieser Landesregierung aufgehoben. Ohne jede Frage verzeichnet Schleswig-Holstein nach wie vor einen deutlichen Bedarf an Dolmetscher*innen. Wir stehen auch im Wettbewerb mit anderen Bundesländern.

Um mehr Dolmetscher*innen nach Schleswig-Holstein zu bekommen, wäre die Einführung einer Ausbildungsmöglichkeit ein wichtiger Schritt. Deswegen haben wir ihn auch im Koalitionsvertrag festgehalten. Das Ziel ist klar. Allerdings müssen wir genau prüfen, wie hoch das Interesse an einem solchen Angebot wäre und ob möglicherweise die Kooperation mit anderen Hochschulen in Deutschland eine Möglichkeit wäre, zu einer kurzfristig bezahlbaren Lösung zu kommen.

Vielen Dank.

Nelly Waldeck

Sprecherin für Mobilität, Klimaschutz, Schifffahrt, Digitales, Netzpolitik, Soziales, Jugend und Antidiskriminierung