Der 17. Juni 1953 sollte uns eine Mahnung sein, nicht wegzuschauen, wo Unterdrückung und Ungerechtigkeit stattfinden

Es gilt das gesprochene Wort!

TOP 36 – Freiheit ist das höchste Gut: Resolution des Schleswig-Holsteinischen Landtags zum 70. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR

Dazu sagt die Abgeordnete der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Eka von Kalben:

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren,

der 17. Juni war in meiner Jugend ein freier Tag. Ein Feiertag, der für viele, selbst in meiner Generation, schon ein bisschen aus der Zeit gefallen war.

Der Traum von der Wiedervereinigung war irgendwie ausgeträumt, wenn man von wenigen Aktiven, wie meinem Vater, absah. Für uns war die DDR Realität und der Aufstand am 17. Juni 1953 lange her. Und heute bin ich froh, dass wir hier mit unserer Resolution des Aufstandes vor 70 Jahren gedenken.

Warum? Weil ich es 1. richtig finde, dass wir uns immer wieder die Zeit nehmen, an Opfer von Staatsgewalt zu erinnern. Erinnerung ist für uns eine Mahnung. Eine Mahnung, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich sind, sondern etwas, für das man sich einsetzen muss. Immer und immer wieder.

Und 2. ist es wichtig, darüber zu sprechen, was wir an diesem Tag aus diesem historischen Ereignis lernen können. Das Gedenken der Opfer, die während des Aufstandes zu Tode gekommen sind, ist und bleibt wichtig. 55 Tote, zahlreiche Verletzte und viele Menschen, die Haft und Repressionen erleiden mussten.

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat eine Übersicht über die 55 Todesopfer veröffentlicht, die im Zusammenhang der Unruhen ihr Leben geben mussten. Und das waren viele Menschen, die auf der Straße für ihre Rechte kämpften.

Aber das Ausmaß der Staatsgewalt zeigt sich auch an den Menschen, die als Unbeteiligte sterben mussten.

Da ist als zum Beispiel Werner Sendintzky. Er starb an seinem 16. Geburtstag. Mit 20 Jungs saß er auf dem Dach eines Behelfsheimes, um die aufregenden Ereignisse im Ostsektor zu beobachten. Die Polizei versuchte auch mit Warnschüssen, die Menschen aus dem Westen zurückzuhalten, dabei traf ein Querschläger den Jungen in die Brust.

Kurt Heinrich, 41 Jahre alt, wurde am Abend des 19. Juni am Fenster seiner im dritten Stock gelegenen Wohnung von einer Streife erschossen. Die Fenster zur Straßenfront hätten nicht beleuchtet sein dürfen. Die Polizei erschießt den Vater von vier Kindern.

Und zuletzt Margot Hirsch, 20 Jahre alt. Sie arbeitete als Verkäuferin des HO-Warenhauses am Markt. Sie ist frisch verheiratet und will sich nach Feierabend mit ihrem Mann treffen, doch auf dem Markt wird auch am Tag nach dem großen Aufstand geschossen. Auf eigene Verantwortung wird es ihr erlaubt, nach Hause zu gehen. Kurz darauf wird sie an der Haltestelle der Straßenbahn von einer Kugel getroffen, die Brust und Herz durchbohrt.

Drei von 55 Toten, die in unserem historischen Gedächtnis nicht vergessen werden sollen.

Meine Damen und Herren, kommen wir zum zweiten Teil und zur Frage: Was lehrt uns das? Was kann und sollte der 17. Juni uns heute bedeuten?

Die Menschen, die sich erhoben, wollten Freiheit, Demokratie und eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien. Aber der Anlass für die Streiks war, da sind sich die Historiker*innen einig, der Frust über die soziale Ungerechtigkeit. Der Frust darüber, dass Repressalien für einige Bevölkerungsschichten gelockert wurden, aber gerade für die Arbeiter*innen nicht. Das bedeutet, gerade wenn die Zeiten herausfordernd sind, muss es gerecht zugehen.

Eine zweite Besonderheit des 17. Juni ist, dass sich hier Menschen wirklich spontan erhoben haben. Auch wenn die DDR Führungen immer wieder eine andere Auslegung transportiert haben, die Quellen belegen, dass hier keine von westlichen Geheimdiensten vorbereitete Aktion vorliegt, sondern eine Streikbewegung, die sich in kürzester Zeit ausgebreitet hat. Ohne soziale Medien, ohne Handys, nur über den westlichen Rundfunk verbreitet.

Diese Spontanität hat sich auch gezeigt, als ein einzelner vor dem Haus der Ministerien auf einen Tisch steigt und an die Menge spricht. Ein unbekannter Bauarbeiter spricht aus, was viele denken. Weder vorher noch hinterher trat er wieder in Erscheinung. Ein Mensch erhebt seine Stumme und bewegt etwas.

Das ist das, was mich noch heute fasziniert. Menschen, die Mut hatten, in der Geschichte in Prag, in Polen und 1989 in Deutschland. Menschen, die heute Mut beweisen: im Iran, in Hongkong, in der Türkei, in Russland. All das nur wenige Beispiele, wo Menschen ihre Stimme erheben und Repressalien, Verhaftung und sogar Tod in Kauf nehmen.

1953 fühlten sich viele Menschen in der DDR allein gelassen. Der Westen hat sich zurückgehalten. Und auch heute gibt es immer wieder übergeordnete Gründe, sich nicht einzumischen. Sicherheitspolitische, aber auch wirtschaftliche.

Ich weiß, dass da vieles auszutarieren ist, aber all unser Tun muss hier gerade aufgrund unserer Geschichte auch der Freiheit anderer Menschen auf der Welt gelten.

Der 17. Juni 1953 sollte nicht nur als wichtiger Tag in der deutschen Geschichte verankert werden. Er sollte uns Mahnung sein, nicht wegzuschauen, wo Unterdrückung und Ungerechtigkeit stattfinden. Und er sollte uns Mut machen, uns auch einzubringen, da, wo es nötig ist.

Er kann helfen, auch unsere junge Generation zu ermutigen, sich einzubringen und ihre Stimme zu erheben, wenn es um ihre berechtigten Belange, um ihre Zukunft geht.

Vielen Dank!

Eka von Kalben

Landtagsvizepräsidentin

Sprecherin für Europa, Religion, Minderheiten und Inklusion